Montag, 30. Oktober 2006
Danke. Für ein Weilchen.
Sie wird morgen direkt als Erste operiert …
Mir wird schwindelig, ich presse das Telefon fest gegen meine Wange und atme tief durch, atme die leise aufsteigende Panik klein, besinne mich auf meine Aufgabe. Dann fahre ich nachher los.
stelle ich fest, spreche noch kurz Details ab und beginne mit den Vorbereitungen. Einige Stunden später sitze ich auf dem Beifahrersitz neben dem Poschisten, er lenkt das Auto durch die Dunkelheit gen Norden. Wir sind auf dem Weg, über sie zu wachen.
Zimmer 34a, Zentrale Aufnahmestation. Ich stehe einige Sekunden vor der Tür, die Klinke in der vor Ungewissheit zittrigen Hand, und versuche, mich auf sie vorzubereiten. Sie weiß nicht, dass ich hier bin. Wie wird sie reagieren? Wird sie mein Erscheinen so interpretieren, dass die OP noch riskanter ist, als die Ärzte ihr sagen oder wird sie sich einfach nur freuen, dass ein Teil ihrer kleinen Familie für sie da ist? Ich schüttele die Unsicherheit ab, ziehe Grimassen, um die Sorgenfalten zu glätten, straffe die Schultern und trete strahlend ein. Sie sieht so klein und schwach aus auf dem großen, weißen Krankenbett. Eine Sekunde lang blickt sie mich verwirrt an, dann klären sich ihre Augen und strahlen ein fassungslos freudiges Hallo.
Wir halten uns an den Händen. Ihre Kraft ist erstaunlich, ebenso das Leuchten Ihrer Augen. Ich frage mich für einen kurzen Moment, ob von uns beiden wirklich ich es bin, die Trost und Halt schenkt. Sie sagt wieder, dass sie Angst hat, aber dass die Ärzte und Schwestern ja so unglaublich nett sind und dass sie ihnen Vertrauen schenkt. Ich ergreife die Gelegenheit und beginne, sie abzulenken, sie erzählen zu lassen. Sie wettert gegen Dieses und Jenes, ereifert sich über das Wetter, über Menschen aus Ihrem Umfeld. Irgendwann streife ich ihr fast nebenbei das OP-Hemd und die Thrombosestrümpfe über, erzähle ihr dabei von unseren Katzen und sage ihr, wie unglaublich sexy diese Strümpfe sind und dass die Ärzte sich noch die Finger nach ihr ablecken werden. Wir lachen fast ausgelassen – die kurz bevorstehende OP ist wie ein ungreifbarer Luftballon, der über uns schwebt, uns die Sicht aber nicht nehmen kann.
Dann betreten zwei Schwestern das Zimmer. Frau S., es geht los!
Die warme Hand, die in meiner liegt, zuckt zusammen, ich fühle, wie sich ihre Fingernägel in meine Handfläche bohren. Ich streiche ihr über das stellenweise nun vollkommen weiße Haar, gebe ihr einen Kuss, drücke sie. Nochmal. Und nochmal. Laufe neben ihrem Bett her und winke ihr noch ein letztes Mal, rufe ihr ein „Bis nachher, Omi!“ zu, bevor sie mit dem Bett in dem kalt ausgeleuchteten Aufzug verschwindet. Und mich leer zurücklässt.
Wir warten. Der Poschist beißt in sein Brötchen, und während ich ihm beim Kauen zuschaue, kommt mir der Gedanke, wie reich ich eigentlich bin. Dass da der Mann meines Herzens vor mir sitzt, mich diese 550 sorgenweiten Kilometer entlang begleitet hat und jetzt da ist, mit mir wartet, mich stützt. Ich denke an die anderen Menschen, die jetzt wohl auch an mich denken, die mir die Kraft geben, für diesen mir wichtigen Menschen zu warten. Und bin ihnen für einen langen Moment sehr dankbar.
Die Stunden vergehen. Jede Minute nehme ich einzeln wahr, sie ziehen sich wie Kaugummi, und ich bin froh, dass Digitaluhren keinen tickenden Sekundenzeiger haben. Ich sitze in ihrem Sessel; schaue mir ihre Bilder, ihre Erinnerungen, ihr Leben an. Versuche nachzufühlen, warum sie damals so weit fort gegangen ist und verfluche den Tag, den Menschen, der ihr ein Leben in unserer Nähe unmöglich machte. Ich streiche mit den Fingern über die Häkel-Sofakissen, mit denen ich als Kleinkind schon gekuschelt habe und fühle, wie mir das Herz fast platzt, weil es so voll ist mit diesem Menschen, der so einen großen Teil von mir selber ausmacht.
Immer wieder blicke ich hektisch auf mein Handy, der Empfang hier ist schlecht und ich habe Angst, dass das Krankenhaus mich nicht erreichen könnte. Irgendwann klingelt es. Mein Herz krampft sich zusammen, meine Stimme überschlägt sich, doch die Nachricht ist nur die, dass man noch nichts weiß, dass sie noch operiert wird. Ich solle später noch einmal anrufen. Ich laufe in der Wohnung auf und ab, erblicke mich im Gaderobenspiegel und erkenne mich nicht. Nachdem noch weitere Stunden vergangen sind, halten wir das Warten nicht mehr aus und fahren wieder ins Krankenhaus.
Ich stehe vor der Tür der Intensivstation und weiß immer noch nicht, wie es um sie steht. Es kommt mir vor, als hätte ich schon vor Stunden geklingelt und gehe auf 1 1/2 Quadratmetern auf und ab. Endlich knackt es in der Gegensprechanlage, ich presse meine klammen Finger in die Seitentaschen der Winterjacke, in der ich so friere, und schildere mein Anliegen. Einen Augenblick bitte.
Um mich herum verschwimmt alles.
Was bedeutet das, „Einen Augenblick bitte“? Wie hat sie das betont? Ist das ein gutes Zeichen? Ist es ein schlechtes? Ich warte wieder gefühlte Stunden, gehe alle Szenarien im Kopf durch, die zu „Einen Augenblick bitte“ passen würden und stelle mir das Gesicht vor, das gleich die Türe öffnen wird. Werde ich aus diesem Gesicht die Antwort lesen können? Natürlich kann ich es nicht. Hilflos blicke ich die Schwester an, die mir die Tür öffnet und überfalle sie mit mehreren halben, vollkommen wirren Sätzen und schaffe es schlussendlich, die klare Frage „Wie geht es ihr?“ zu stellen. Mit der einen Hand streicht sie mir über den Arm, mit der anderen reicht sie mir einen Kittel, während sie mit einem vorsichtigen Lächeln Es geht ihr gut. Sie ist gerade aufgewacht.
sagt.
Leise trete ich an ihr Bett und blicke ängstlich auf das vollkommen weiße Gesicht, das von den ebenso weißen Haaren eingerahmt wird. Vorsichtig lege ich meine Hand auf ihre Hand und hoffe in der gleichen Sekunde, dass sie sich nicht erschreckt, weil meine Hand doch so kalt ist – noch bevor ich bemerke, dass ihre Hand noch kälter ist als meine. Sie seufzt und öffnet unter Anstrengung ein Auge. Es dauert einen Moment, bis sie mich erkennt. Ein Ruck geht durch ihren Körper, der Monitor hinter ihr protokolliert rot die kleine Abweichung von den Optimalwerten, und sie lächelt. Leise räuspert sie sich und flüstert: Da bist du ja, Mäuschen …
Ich lächle ein einfallsloses „Und du erst!“und sehe erleichtert, dass die Farbe langsam in ihr Gesicht zurückkehrt.
Ich bleibe lange bei ihr sitzen, halte ihre Hände, streiche ihr über Gesicht und Haar, bis sie anfängt, mit mir zu schimpfen, ich würde ihre Frisur nun vollends ruinieren. Ich muss lachen und verlege mich darauf, die Adern ihrer Hände nachzufahren und mich darüber zu wundern, wie weich Hände sein können. Als sie dann auch noch anfängt, mit dem jungen Arzt zu schäkern, der die Nachtschicht übernimmt und ihre Verbände kontrolliert, als sie mir aus halb geschlossenen Augen zuzwinkert und mich auf mein gespielt entrüstetes „Aber Omi!“ hin schimpft, dass ein wenig flirten ja wohl noch erlaubt sei, da weiß ich: ich hab sie wieder. Das Weilchen, dass ich mir so sehr gewünscht habe, für mich, für unsere mikroskopisch kleine Familie, aber am meisten für sie, das ist uns gegönnt. Der feste, anhaltende Händedruck, mit dem sie mich später am Gehen hindern will und der dem Monitor-Protokoll einen weiteren Eintrag beschert, fühlt sich an wie ein Versprechen.
Als ich die Tür der Intensivstation wieder hinter mir schließe, ruft der Poschist mir Du lächelst ja!
entgegen, und ich fühle, dass meine Schultern wieder grade sitzen, was das Wort „Erleichterung“ wirklich meint. Noch ist mein Herz nicht frei, noch liegt eine unsichere Nacht vor uns, aber ich habe diese Art von tiefer Gewissheit in mir, die man nicht ausspricht, die man nur für sich behält, damit man sie nicht verrät und damit versehentlich zerreißt. Es geht ihr gut. Sie scherzt schon.
sage ich mit erhobenem Kopf, fühle, dass meine Wirbelsäule diese Haltung nicht mehr gewohnt ist und bemerke, dass mein Magen knurrt. Ich hab’ jetzt tierischen Hunger
ergänze ich und mache das mit meinem Gesicht, was man „grinsen“ nennt.
Am nächsten Morgen lächelt sie mir schon entgegen. Sie hat die Nacht ohne jegliche Komplikationen hinter sich gebracht, die Schmerzmittel wirken gut und die Schwestern versichern uns, dass sie heute schon auf Station verlegt wird. Sie freut sich unheimlich über den kleinen, grimmig dreinschauenden Stoff-Mops, den ich ihr mitgebracht habe, damit er über sie wacht, wenn ich heute wieder fahren muss. So halten wir eine lange Weile unsere Hände und Stoffpfoten, lächeln uns an und sind froh, dass wir zusammen, dass wir da sind. Ich verspreche ihr, sie nächstes Jahr wieder für ein paar Tage zu besuchen, und dass ich sie in der Zwischenzeit in meinem Herzen halte und an sie denke. Ich merke, dass sie traurig ist, traurig wegen der wieder einmal bevorstehenden langen Trennung – und als ob sie meine Gedanken hören könnte, sagt sie Aber ich möchte nicht zurück, Mäuschen. Ich bin hier zu Hause.
, während sie unter Anstrengung ihren Arm hebt und mir liebevoll durchs Haar streicht.
Als der Poschist und ich später im Auto sitzen, die Nase wieder gen Süden gerichtet, da bin ich hin- und hergerissen zwischen der Freude, auf diese glückliche Art nach Hause fahren zu dürfen und dem Schmerz, sie dort alleine zurücklassen zu müssen. An dieser Situation werden wir nichts mehr ändern können, alte Bäume verwurzelt man nicht, ohne ihnen schwer zu schaden. Aber jetzt haben wir zumindest noch ein Weilchen, um uns über die Entfernung hinweg gut zu tun. Worte finden, die beschreiben, wie sehr ich das schätze, wie dankbar ich bin – ich kann es nicht. Aber ich nehme all diese Gefühle, forme ein schönes Päckchen aus ihnen und lege sie geballt in ein langes Lächeln.
in verschiedenste richtungen
da ich ja von dir Persönlich die Geschichte schon gehört hatte ... hat mich dein Text hier - total - beschäftigt ... hab fast feuchte Augen bekommen ;-)
Alles gute für Euch
Ich wünsche Dir noch viele Weilchen.
Ein letztes Mal 550 Kilometer für dich gefahren. Eine Heidenangst gehabt. Du hast bestimmt gelächelt, ich solle mich nicht ängstigen, und mich einen kleinen Schisser genannt. Ein letztes Mal deine Hand gestreichelt. Eine Träne ist dabei auf dein Laken ge
Aufgenommen: Dienstag, 9. Juni 2009