Mittwoch, 11. April 2007
Das Geschenk
Vorsichtig strich er die kleine blaue Schleife glatt und musterte sein Werk kritisch. Vor gut einer Stunde war er mit dem vom Sportunterricht noch feuchtem Haar durch die Straßen gefahren, hatte das Fahrrad ordentlich neben der Garage abgestellt und den Haustürschlüssel aus seinem viel zu schweren Ranzen herausgefischt. Er war allein zu Hause, wie so oft.
Aber heute war ihm nicht langweilig. Kurz nachdem er das Glas Cola, das ihm trotz seiner sieben Jahre niemand verbieten würde, ausgetrunken hatte, fiel sein Blick auf eine liegen gebliebene Rolle Geschenkpapier. Plötzlich packte es ihn. Er wusste, er hatte rund eine Stunde, bevor seine Mutter nach Hause kommen würde, den kleinen Bruder Georg im Gepäck – das war rund eine Stunde, um ihr eine Freude machen. Ein Lächeln erhaschen. Vielleicht eine liebevolle Hand auf seiner Wange.
Grübelnd lief er durch das Haus, er hatte Geschenkpapier, aber doch kein Geschenk, von seinem Taschengeld waren nur noch vier Groschen übrig, und die Zeit wurde langsam knapp. Schlussendlich blieb er vor dem Zigarettenvorrat seiner Mutter stehen und griff beherzt zu. Er wusste, wie viel sie rauchte, und dass sie das nächste Päckchen am Nachmittag eh schon öffnen würde. So nahm er eines heraus, legte es auf den Tisch und packte es sorgfältig ein. Die große Küchenschere war zwar viel zu unhandlich für seine kleinen Finger, aber er schaffte es, das Papier, die Tesastreifen und das Dekorband passend zurechtzuschneiden, ohne sich auch nur einen Kratzer zuzufügen.
Nun saß er in der Küche, schaute aus dem Fenster und wartete. Jeden Moment müsste seine Mutter um die Ecke biegen; sein Herz pochte laut den Takt der Schritte, die sie wohl gerade ging. Leise beschlich ihn die Angst, dass ihr seine Idee vielleicht doch nicht gefallen könnte und fühlte, wie seine Handflächen langsam feucht wurden – aber noch bevor er es sich anders überlegen konnte, bog sie um die Ecke und schritt auf die Haustüre zu, den kleinen Georg an der Hand.
Er lauschte den Lauten, die aus dem Flur zur Küche herüberwehten; sie erzählten ihm, dass seine Mutter erst dem quengelnden Georg Jacke und Schuhe auszog, bevor sie sich ihres eigenen Mantels entledigte und alles akkurat in der Wandgarderobe platzierte. Dann endlich näherten sich ihre Schritte. Er strich noch ein letztes Mal über die blaue Schleife, fasste sich ein Herz und setzte ein Lächeln auf.
Hallo Mama.
Sie betrat den Raum. Hallo Robert.
Ihr Weg führte sie zum Kühlschrank, sein Lächeln und das kleine Päckchen auf dem Tisch blieben unentdeckt. Er ergriff die Arbeit seiner letzten halben Stunde und streckte sie ihr zaghaft entgegen. Hier, für dich!
lächelte er ihr zu.
Sie nahm sich nicht die Zeit, sich zu ihm zu setzen. Was ist das?
fragte sie, noch während sie die Schleife und das Geschenkpapier ungehalten vom Päckchen riss und unachtsam auf den Tisch fallen ließ. Was soll der Quatsch?
schimpfte sie, die Packung Zigaretten in der Hand und Querfalten auf der Stirn. Robert starrte auf das zerknüllte Papier, auf die nun hässliche Schleife, und verstand nicht. Verstand nicht, warum sie nicht verstand. Robert!?
Sie verlangte nach einer Erklärung. Doch Robert hatte keine. Wie sollte er ihr erklären, dass er nur Lust dazu hatte, etwas schön einzupacken, dass er sich nur ein Lächeln von ihr wünschte?
Sie stand noch einen Moment mitten in der Küche, er konnte ihren festen Blick spüren. Dann drehte sie sich um und ging. Sie fragte nicht mehr.
Einige Minuten später erinnerte ihn das Klicken ihres Feuerzeuges daran, dass die Welt aus mehr bestand als aus dem kleinen Haufen zerknüllter Zuneigung auf dem Küchentisch.
Es war Zeit, die Tränen wegzuwischen.
Aber allerspätestens nach so einer rührenden Geste sollte einem das als Eltern sofort wieder einfallen.
Kinder haben ein unbedingtes Recht auf die Liebe ihrer Eltern, nämlich.
Das Schlucken hängt mir auch im Hals.
Warum schreiben Sie so was, liebe Frau serotonic?
ich mag es auch nicht, wenn sich die kinder an sachen der erwachsenen vergreifen, mag die geste noch so nobel gemeint sein...
klar ist das 'ne traurige story und die art, wie sie geschrieben ist erzwingt ein schlechtes gefühl in der magengegend, aber so einfach kann man über die mutter auch nicht urteilen...
wer weiß, was die mutter an diesem tag oder womöglich schon die ganze woche hat mitmachen müssen....manchmal bleibt halt was auf der strecke...der kurze wird's überleben und ich wünsche der mutter mal eine woche urlaub ohne kinder!
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich selbst da im ersten Moment reagiert hätte - wahrscheinlich hätte es mich auf den ersten Blick auch irritiert, vor allem wenn ich einen schlechten Tag gehabt hätte.
Wenn ich als Leser Mitleid mit dem Kind habe und verständnislos gegenüber dem Verhalten der Mutter reagiere (so habe ich jedenfalls nach dem Lesen im ersten Moment reagiert), dann ist das m.E. auch nicht besser als das Verhalten, das die Mutter gegenüber dem Kind zeigte.
Ich meine, wenn ich als Leser diese Mutter verurteile für ihr Verhalten, dann müsste ich auch mich selbst in den Hintern treten dafür, dass ich nicht versuche, die Seite der Mutter nachzuvollziehen.
Wie auch immer, die zweiten Blicke sind nicht zu unterschätzen, finde ich.
Was ich weiterhin nicht wollte, und auch nicht tat: Urteilen. Sondern: fühlen.
Ich habe diese Geschichte aus Anlässen geschrieben. Sie ist zwar frei formuliert und ausgemalt, aber nicht erfunden. Ich kenne alle 3, die Mutter, den kleinen Sohn, den großen Sohn. Über die Mutter zu urteilen stünde mir gar gut zu Gesicht, wäre nur in Teilen anmaßend – trotzdem erlaube ich es mir nicht. Sie zu ver-urteilen ebensowenig. Trotzdem war es mir ein Bedürfnis, Roberts Geschichte zu erzählen, in meinen Worten. Ich trug sie über eine Woche im Herzen mit mir, und sie zwickte mich, bis ich sie niederschrieb.
goestern: Ich habe viel darüber nachgedacht, was so ein in manchen Augen „kleines“ Geschehnis in einem Kinderherzen dauerhaft auslösen kann. Wie allein sich ein Kind fühlen muss, dass so viel Ablehnung von der eigenen Mutter erfährt und in seinem Urvertrauen erschüttert wird. Es hat mich nicht losgelassen.
Robert, nein, diese Frau hat mehr als genug Urlaub und Zeit zur Selbstverwirklichung – und klingt die Geschichte jetzt wirklich so, als wäre das Päckchen Zigaretten das Problem gewesen? Da steckt doch viel mehr hinter, allein die ersten beiden Absätze sollten das klarmachen und der Momentaufnahme des Geschenk-Ignorierens den entsprechenden Hintergrundklang geben. Ich kann deine Sicht prinzipiell nachvollziehen – „Der Kurze wird’s überleben“ halte ich allerdings für ziemlich lapidar und wenig empathisch.
Und ja, Lydia, du hast Recht, die zweiten Blicke sind verdammt wichtig und deine Haltung spricht mir aus dem Herzen, wenn ich hier auch ein wenig vorbelaster bin. Es ist ein langer Rattenschwanz, der solchen Situationen vorausgeht und nachfolgt.
Natürlich wäre es auch sinnvoll, hier die Seite der Mutter zu beleuchten – die Perspektive des Kindes zu beziehen war mir aber eine Herzensangelegenheit. Die Perspektive eines Kindes, das geliebt werden will, auf seine Weise nach Zuneigung schreit, und doch nur wieder Ablehnung erfährt. Es ist nur ein Brocken aus einer Welt von Gleichgültigkeit, in der manche Menschen groß werden müssen und noch Jahrzehnte später daran zu knabbern haben, weil sie sich nicht völlig sicher und wohl mit ihren Mitmenschen fühlen können. Weil sie Angst haben, alles „falsch“ zu machen. Weil sie es so gelernt, so vermittelt und keine Alternativen aufgezeigt bekommen haben.
Tobias, freut mich, dass ich deinen Nerv getroffen habe. Aber wer in Gottes Namen ist Korczak? ;)
> > > ;)
-> Ich hatte der Frage nach Korczak ein zwinkerndes Smiley nachgefügt, da ich keine Antwort auf sie wollte. Ich war darüber amüsiert, dass du es einmal wieder geschafft hast, in einem Vierzeiler einen Literatennamen rauszuhauen. Diesem Amüsement Ausdruck zu verleihen war mein Ziel.
> !
-> Smiley beachten
> (-> :))
-> Das ganze lächelnd sagen.
:)