Mittwoch, 5. April 2006
Wo ein Wille ist …
Steffi ist 24 Jahre alt, ein an sich fröhlicher, ausgeglichener Mensch, ist motiviert, engagiert – und allein erziehende Mutter der bezaubernden 2 1/2-jährigen Vivi. Der Kindsvater entschloss sich kurz nach Bekanntwerden der Schwangerschaft, seinen eigenen Reifegrad hinsichtlich der anstehenden Vaterrolle als zu gering einzustufen und ließ die werdende Mutter mit der noch zu vollendenden Ausbildung und der Herausforderung, ein Kind groß zu ziehen, alleine. Steffi vollendete die Ausbildung mit prallem Babybauch erfolgreich, legte ihre ursprünglichen Zukunftspläne zu den Akten und widmete sich von nun an voll und ganz ihrer kleinen Tochter. Und den finanziellen Problemen.
Steffi und Vivi leben in einer Sozialbausiedlung; es ist nicht sehr hübsch dort, aber einigermaßen gepflegt, und die kleine Wohnung mit den zwei Zimmern und der klitzekleinen Küchenzeile ist zwar nicht gerade optimal, aber es ist ein Dach über dem Kopf und ein sicheres zu Hause für die Kleine. Anfangs, als Steffi noch das Erziehungsgeld zusätzlich zur Sozialhilfe und dem Kindergeld erhielt, kamen die Beiden recht gut über die Runden. Große Sprünge waren zwar nicht drin, aber für Essen, Kleidung und hin und wieder mal ein neues Spielzeug hat es allemal gereicht. Doch seitdem das Erziehungsgeld weggefallen ist, muss Steffi jeden Euro fünfmal umdrehen und knallhart haushalten, um sich und Vivi in trockenen Tüchern zu wissen. Beim besten Willen reicht das Geld nicht aus, um die schnell und unaufhaltsam wachsende Vivi mit passender Kleidung oder entwicklungsförderndem Spielzeug auszustatten. Steffi sagt, dass sie Vivi wohl nackt herumlaufen lassen müsste, wäre da nicht ihre eigene Mutter, die von ihrem ebenfalls knappen Geld immer wieder ein wenig für die beiden abzwackt. Steffi würde gerne arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Noch geht das nicht, noch ist Vivi zu klein für den Kindergarten, aber ab August … ja ab August würde Steffi gerne eine Halbtagsstelle annehmen. Doch sie weiß schon jetzt, dass sie es in ihrer Branche mehr als schwer haben wird, einen Arbeitsplatz zu finden. Schon gar nicht mit diesem Lebenslauf: direkt von der Ausbildung in die Mutterschaft, keine Berufserfahrung. Schon gar nicht unter diesen Vorraussetzungen: halbtags, feste Arbeitszeiten, keine Überstunden möglich, in mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbarer Nähe zum Kindergarten.
Wir sitzen im McDonalds um die Ecke, Steffi und ich, und diskutieren über ihre schmalen Perspektiven. Eine Freundin hatte ihr an den Kopf geworfen, Steffi solle doch eine Ganztagsstelle annehmen und die kleine Vivi nachmittags in Betreuung geben. Dass es angesichts der gezahlten Gehälter in ihrer Branche absolut illusorisch ist, sich so etwas leisten zu können, muss die Freundin wohl übersehen haben. Und, überhaupt!
presst Steffi durch das Stück Chicken-Wing, welches sie vorher Ewigkeiten lang gedankenverloren in der süß-sauren Sauce ertränkte. Das was sie sagen möchte hat jetzt keine Zeit für abgeschlossene Kauvorgänge. Überhaupt, ich will das auch gar nicht! Ich will sie nicht abgeben müssen. Ich will meine Tochter großziehen und die Verantwortung nicht an einen Fremden abtreten.
. Vivi eine Mutter zu sein, das ist Steffis primäre Aufgabe.
Doch selbst diesen einfachen Gedankenstrang kann das Arbeitsamt nicht erfassen. Steffi erhält schon heute Jobangebote, bei denen Sie sich zu bewerben hat. Vollzeitstellen in für sie und ihre Umstände unerreichbarer Entfernung, Vakanz ab sofort. Das frustriert und demotiviert sie nicht nur, sie sorgt sich jetzt auch noch, die Leistungen gekürzt zu bekommen – macht doch das Verhalten der diversen Ämter den Eindruck von spontaner Unverhältnismäßigkeit im Umgang mit arbeitslosen Müttern auf sie. Die Kinder der Nachbarin zum Beispiel
, ereifert sich Steffi wild mit einer Pommes wedelnd, sind nun beide schon seit letztem Jahr im Kindergarten, der Mann arbeitet Vollzeit und die Mutter der Kinder erhält Sozialhilfe, bleibt aber von Bewerbungszwängen vollkommen unbehelligt.
Steffi hat kein Verständnis für die offensichtliche Willkür von Ämtern, die der Frau von nebenan freie Hand in ihrer Verwirklichung als Mutter lassen, es jedoch bei ihr gerne sehen würden, würde sie ihre von der Gesellschaft und der Politik ach so erwünschte Brut wieder zurück in den warmen Uterus stopfen.
Über die aktuellen Vorschläge zur Steigerung der Geburtenrate, insbesondere die finanzielle „Bestrafung“ kinderloser Menschen, kann sie nur den Kopf schütteln. Ihre Lage enthält eine Menge Knackpunkte, warum sich viele Menschen gegen Kinder entscheiden; sie weiß, dass Entschlossenheit und guter Wille alleine nicht ausreicht, eine Zukunft mit Kind zu sichern und dabei den Wunsch nach persönlicher Selbstverwirklichung nicht völlig begraben zu müssen.
Manchmal glaube ich, ich werde verrückt. Ich möchte doch nur mein Kind großziehen, ohne am finanziellen Abgrund zu schweben, ich möchte meiner Tochter etwas bieten können, ich möchte meinen Job weitermachen. Aber wenn ich meine Situation den Sachbearbeitern schildere, drehen die meine Worte so herum, dass es fast den Eindruck macht, ich würde mich verweigern.
seufzt Steffi und spült den letzten Bissen mit einem großen Schluck Cola herunter. Ihre hübschen Augen fallen über den sorgegeborenen Augenrändern kaum auf. Hätte ich einen Mann hier, wäre es einfacher. Traurig, aber wahr.
Doch da ist kein Mann, zumindest nicht hier. Der Kindsvater zeigt keinerlei Interesse an seinem Nachkömmling, Steffi kann und will ihn nicht in die Verantwortung zwingen. Ihr fester Freund, ein junger Türke, studiert auf Zypern – kann ihr also nur emotionaler Halt sein. Auch wenn dieser Halt nur ein Pflästerchen ist, wo ein ordentlicher Wundverband nötig wäre.
Die beiden meinen es ernst miteinander, nun schon seit 2 Jahren, über die große Entfernung hinweg. Die ursprüngliche Ablehnung seiner muslimischen Eltern gegenüber Steffi, die nicht nur ungläubig ist, sondern auch das Kind eines anderen Mannes aufzieht, ist mittlerweile durch die Besuche in der Türkei einem fast liebevollen Umgang gewichen. Mittlerweile teilt die Familie sogar ihre Pläne und Gedanken zu dem anstehenden Hotelbau mit Steffi. In ein, zwei Jahren dann, wenn ihr Freund sich ein Standbein geschaffen hat, sie fließend türkisch spricht und das Hotel fertig ist, dort, in seiner Heimat, dann werden Steffi und Vivi ihm folgen. Allen Horrorvisionen und Vorhaltungen mancher Freunde und der eigenen Unsicherheit zum Trotz wird sie in die Türkei auswandern, ihr Kind in dem fremden Land aufziehen und gleichzeitig ihren Beruf im Hotel der Eltern ausüben.
Was hält mich denn noch hier?
fragt sie trocken und wirft ihre Serviette auf das Tablett. Und mir fällt beim besten Willen nicht ein, womit man diese Frage beantworten könnte.
Aber zum eigentlichen Inhalt: Traurig zu lesen, mein ehrliches Mitgefühl für die frustrierende Lage. Bekräftigt mich nur darin, dass der Sozialstaat Deutschland weder Perspektiven hat noch Perspektiven bietet.
Solange die Politik auf ähnlichem Inzest-Kurs wie die A-List Blogger *seitenhieb ;)* in intrinsischen, selbstverliebten Themengeschwüren weiterfährt, kümmert sich um die Bürger tatsächlich niemand mehr.
Das Thema ist in der Tat sehr bedrückend. Mit Ämterwillkür hatte bisher wohl noch jeder zu kämpfen, aber um so trauriger ist es, dass auch in den Ämtern, die die Versorgung mit dem Allernötigsten sicherstellen sollen, auch einige Amtsschimmel sitzen, die in Ermessenssachen die Messaltte nicht an den Bürger legen, sondern an den Staatshaushalt. Und sich danach vermutlich am Stammtisch über die faulen Arbeitslosen auslassen.
Ich bin auch nicht besonders erpicht darauf, Kinder in diese Welt zu setzen. Und in Anbetracht solcher Begebenheiten fühle ich mich in dieser Entscheidung nur bestätigt.
Einmal mehr: das reinigende Gewitter ist längst überfällig.
Sprache entlarvt.
Leider kann sich nicht jeder den Entschluss leisten, sich von diesen Sachzwängen und Fallentscheidungen zu lösen und alles in die eigene Hand zu nehmen.
Obwohl ich es für die einzige Möglichkeit halte: nicht mehr von Menschen und einem System abhängig zu sein, das sich weigert, den Tatsachen ins Auge zu blicken und sich lieber mit Bürokratie und Machterhalt zu beschäftigen.
Ein unerfreuliches Thema.
Ich frag mich immer, wie man da helfen kann. Und zwar effektiv und längerfristig. Kennst Du Steffi schon länger?
Sie geht so liebevoll um mit der Kleinen, dass einem das Herz blutet, dass das nicht honoriert wird. Ihren unglaublich verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Tochter schätze ich als sehr selten ein, und da tut es weh zu sehen, dass das anscheinend nichts wert ist. Wobei doch gerade hier der Wert nicht hoch genug einzuschätzen ist.
Smiley:
> Ich bin auch nicht besonders erpicht darauf, Kinder in diese Welt
> zu setzen. Und in Anbetracht solcher Begebenheiten fühle ich
> mich in dieser Entscheidung nur bestätigt.
Das ist so unglaublich schade.
Ich selber möchte auch keine Kinder haben. Ich mag Kinder unheimlich gerne, komme auch gut mit ihnen zurecht (wenn auch manchmal ein wenig unbeholfen, aber das bügeln die Kleineren immer aus *g*), aber verspüre diesen Wunsch tief in mir, selber welche zu haben, nicht.
Was ich schlimm finde: sich bewusst *gegen* Kinder entscheiden zu müssen, obwohl man *eigentlich* gerne welche hätte. Dass solche oben genannten Faktoren überhaupt in die Kinder-ja-Kinder-nein-Entscheidung einbezogen werden *müssen* ist verdammt traurig.
Tobias:
> Ich frag mich immer, wie man da helfen kann.
Du, das habe ich sie auch gefragt (und mich natürlich auch). Sie schüttelt den Kopf und sagt: Ich schaffe das. Irgendwie, aber ich schaffe das.
Ich helfe ihr wohl auch schon damit, dass ich meine Haare in ihre Hände lege und so eine Möglichkeit für sie bin, ein bisschen was dazuzuverdienen, was ihr nicht direkt auf der anderen Seite wieder genommen wird. Allerdings ist das noch nicht mal wirklich ein Pflästerchen und löst keines der anstehenden Job-Kind-Probleme.
Ich weiß einfach nicht, wie ich sie dort unterstützen könnte, außer für perfekte inhaltliche und optische Aufbereitung ihrer Bewerbungsunterlagen zu sorgen und ihr als Fahrer zur Verfügung zu stehen. Und da zu sein, wenn sie mal einen Außenstehenden braucht, sich den Frust von der Seele zu reden oder einfach einmal eine „unbelastete“ Meinung zu hören.
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Herzlichen Dank auch für das reichliche Lob bezüglich meiner Schreibe, ’sch und mein Ego sind ja janz sprachlos :)
Im Umgang mit Kindern bin ich _ziemlich_ unbeholfen, zumindest im Umgang mit o.g. Exemplaren. Aber dann gibt es auch noch ruhige Kinder, die nicht auf die Nerven gehen, und dafür neugierig sind. Die mag ich auch, und mit denen kann ich auch einigermaßen (denk' ich zumindest) umgehen.
Die "Entscheidung" ist bei mir auch keine wirklich getroffene Entscheidung, sondern war/ist Ergebnis von Selbstanalysen, ob ich diesen Wunsch haben könnte. Zugegeben, wird dieser Wunsch auch von äußeren Faktoren beeinflusst, sodass, würden wir in einer "perfekten Welt" leben, möglicherweise vielleicht der Wunsch entstehen könnte. Aber wir sind so weit weg von diesem Ideal, da verschlimmert sich eigentlich nichts mehr.
Ab und zu kommen dann aber auch Selbstzweifel. Besonders dann, wenn man mal versehentlich in der Mittagszeit den Fernseher einschaltet, und dort Menschen sieht und hört, die verarmt sind, aber Arbeit doof finden, und dafür bald ihr siebtes Kind bekommen. Und die (ohne jetzt selbstherrlich klingen zu wollen) "Bildungsschicht" entscheidet sich zunehmend gegen Kinder. Aber da regt sich eher der Wunsch, irgendwem etwas mitzugeben. Gene müssen das zu allerletzt sein, so gut sind die bei mir ohnehin nicht. ;)
Was deine Unterstützung angeht: Ich schätze, du tust deutlich mehr als andere aus _ihrem_ Umfeld. Die Aufbereitung der Bewerbungsunterlagen ist sicher eine sehr willkommene zusätzliche Hilfe.
Wirklich gut ge-/beschrieben; eine Lebenssituation, die immer alltäglicher wird, obwohl das Gegenteil propagiert ist. Sicherlich ist schon die Schilderung ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Besserung. Wenn es Zuhörer gibt, gibt es vielleicht auch Helfer - und der eine oder andere Leser kann vielleicht aufgrund von Position, Kontakt oder Einfluss etwas dazu beitragen.
(Ohne Pathos: Ich glaube, dass gerade Blogs auch hier etwas leisten können. Und besonders Beiträge wie dieser.)
Argh. Es ist spät. Ich schreibe schwülstiges Zeug. WIll sagen: Hier fetzt's.
Und so.
außerdem ist die türkei schöner als ihr ruf.
Oder sollte das ein Kompliment werden? :-D
Zum Thema „Du bist Deutschland“: Ich kaufte gestern etwas beim Bäcker und kaute so ganz gemütlich auf meinem Fanblock rum, als ich „Behandele dein Land einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an. Bringe die beste Leistung, zu der du fähig bist. Und wenn du damit fertig bist, übertriff dich selbst. Schlag mit deinen Flügeln und reiß Bäume aus. Du bist die Flügel, du bist der Baum. Du bist Deutschland.“ von der Brottüte las, an deine Worte und an Steffi dachte und urplötzlich keinen Appetit mehr verspürte. Hohn ist fast gar kein Ausdruck.
Smiley:
> Menschen (…) die verarmt sind, aber Arbeit
> doof finden, und dafür bald ihr siebtes Kind bekommen.
> Und die (…) "Bildungsschicht" entscheidet sich zunehmend
> gegen Kinder.
Diese Thematik war ja erst kürzlich auch Gegenstand der medialen Plattheit und sorgte für Aufregung an allen Ecken. Ich sehe das aber auch recht problematisch. Nicht, weil es die „Falschen“ sind, die dort Kinder bekommen, sondern diese Kinder eben in der Regel schlechte Vorraussetzungen haben, einen Weg aus der Armuts- oder Bildungsmisere zu finden. Aber das ist wirklich ein Thema für sich.
King Fisher:
Hm, ich bin mir da nicht sicher, ob so ein Bericht auf einem kleinen Blog wirklich etwas bewegen könnte. Außer dass er an solche – eben wirklich fast alltägliche – Misstände erinnert und das Thema an der Wahrnehmungsoberfläche hält. Womit ja schon einiges gewonnen wäre.
Wie du siehst, ist die teils demotivierte Haltung auch schon bei mir angekommen. Zu gerne würde ich mich eines Besseren belehren lassen.
Morast:
Ein herzliches Willkommen und ein Merci ob des schwülstigen Zeugs!
schoko-bella:
Ich war noch nie dort, aber Steffi sagt auch, dass es dort wesentlich netter ist als hierzulande geschildert. Vor allem wesentlich kinderfreundlicher, was für sie ja einen ganz besonders wichtigen Aspekt darstellt.
Tobias & Smiley in der Clown-Version:
Benehmt’s euch doch mal bei einem ernsten Thema, also wirklich! ;)
Ich rufe sie an, und während des Klingelns denke ich noch, dass ich mich schon lange nicht mehr gemeldet habe, freue mich trotzdem insgeheim schon auf ihre begeisterte Alltags-Schilderung. Anfang des Jahres haben wir das letzte Mal telefoniert, und da la
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